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Rechtsextremismus in Ost und West – Kommentar 35 Jahre nach der Wende

Rechtsextremismus in Ost und West – Kommentar 35 Jahre nach der Wende

35 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR haben West- und Ostdeutsche noch nicht zueinander gefunden. Das liegt auch am fehlenden Interesse, findet unser Autor. Neulich habe ich wieder für kurze Zeit die Hoffnung verloren. Worte wie "Baseballschlägerjahre", "Rostock-Lichtenhagen" oder "Hoyerswerda" kursierten in den Medien. Sie erinnerten an ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte: die 90er-Jahre, Deutschland frisch wiedervereint und auf der Suche nach einer gemeinsamen Identität. Rechtsextreme trieben besonders in Ostdeutschland ihr Unwesen, machten Jagd auf Andersdenkende und griffen Wohnheime für Asylbewerber an. Anlass für diese Erinnerungen waren die vielen Berichte über die Attacke auf den SPD-Spitzenkandidaten für die Europawahl in Sachsen, Matthias Ecke, der krankenhausreif geprügelt worden war. Schnell kam heraus, dass die mutmaßlichen Täter zwar erst zwischen 17 und 18 Jahre alt, zumindest in Teilen aber rechtsextrem und offensichtlich gewaltbereit sind. Verprügelter SPD-Politiker: "Ich lasse mich nicht zum Schweigen bringen" Dass nur einen Tag zuvor in Essen ein bislang noch Unbekannter dem Grünen-Politiker Rolf Fliß zweimal ins Gesicht geschlagen hatte oder bereits mehrfach in diesem Jahr Grünen-Veranstaltungen in Baden-Württemberg wegen Übergriffen abgesagt werden mussten, geriet dagegen schnell in Vergessenheit. Allein in Niedersachsen hat es in diesem Jahr 49 Angriffe auf Politiker gegeben, wie die Landespolizei meldet. Auch das war eher eine Randnotiz. Mehr zu Zahlen über Übergriffe auf Politiker lesen Sie hier. Der öffentliche Umgang mit dem gewalttätigen Überfall auf Ecke macht eines deutlich: Auch 35 Jahre nach der friedlichen Revolution und fast 34 Jahre nach der Wiedervereinigung greifen in der deutschen Debatte noch immer die gleichen Reflexe und Vorurteile. Ostdeutsche werden oft pauschal als rechtsextrem, demokratieunfähig und gewalttätig stigmatisiert. Westdeutsche bereiten scheinbar weniger Sorgen, gelten als offener und heterogener. Ein Grund dafür liegt am noch immer fehlenden Austausch zwischen den einst getrennten Landesteilen – und der wiederum am fehlenden gegenseitigen Interesse. Von "Dunkeldeutschland" bis zu den "Jammer-Ossis" Es mag wie eine Phrase klingen, die dennoch wahr ist: Die Mauer in den Köpfen haben viele noch immer nicht überwunden – das gilt für Ost wie West. Ich staune oft darüber, denn lange war meine Wahrnehmung eine andere. Ich bin 1994 – also in der Nachwendezeit – in Rostock geboren. Obwohl meine Familie aus Ostdeutschland kommt, identifiziere ich mich bis heute nicht als Ostdeutscher, sondern stets als Bundesdeutscher. Meine Heimat liegt mir am Herzen, mit der DDR habe ich bis auf die Erzählungen meiner Familie und meines Geschichtsstudiums aber wenig am Hut. Die Stereotype über Ostdeutschland bekomme ich trotzdem oft zu hören. Von Freunden und Bekannten aus Westdeutschland höre ich erstaunliche Vorurteile. Es ist dann die Rede von "Dunkeldeutschland" und den "Jammer-Ossis". Es wird kritisiert, dass nach der Wende viel Geld nach Ostdeutschland geflossen und ein zu großer Teil der Bevölkerung dort irgendwie rechts sei. Doch welche Probleme es in Ostdeutschland gibt, wird – abgesehen vom Rechtsextremismus – kaum wahrgenommen. Die DDR-Geschichte habe etwa im Schulunterricht kaum eine Rolle gespielt, wird mir berichtet. Das gleiche Spiel im Osten: Viele stempeln die "Wessis" als überheblich ab, machen sie für die schlechte wirtschaftliche Entwicklung des Ostens verantwortlich und fremdeln mit dem politischen System, das die erste frei gewählte DDR-Volkskammer 1990 mit dem Einigungsvertrag angenommen hat. Diese Wahrnehmung schlägt dann bei manchen in Trotz um, frei nach dem Motto: "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert." Positive Aspekte der DDR – etwa günstige Wohnungen oder der hohe Anteil an Frauen in Arbeit – werden überzeichnet, während Errungenschaften der Wiedervereinigung – vor allem ein freiheitliches, demokratisches System – schon fast als selbstverständlich angesehen oder gar infrage gestellt werden. Wirtschaftliche Entwicklung sieht anders aus In Vorurteilen steckt oft zumindest ein Funken Wahrheit. Die Bundesregierungen der vergangenen Jahrzehnte haben die ostdeutsche Wirtschaft zwar subventioniert, die von Helmut Kohl versprochenen "blühenden Landschaften" schufen sie dennoch nicht. Die Treuhandgesellschaft hat zudem in den 90er-Jahren so manches Ost-Unternehmen mit Zukunft ohne Not abgewickelt. Mein Kollege Christoph Schwennicke hat über einen Fall in Thüringen kürzlich eine lesenswerte Kolumne geschrieben. Wirtschaftliche Entwicklung einer Region sieht anders aus, darüber darf man sich beschweren, und das sollte auch im Westen anerkannt werden. Und ja, Ostdeutschland hat ein offensichtliches Problem mit Rechtsextremisten und Demokratiefeinden, steht damit aber längst nicht allein da. Hass und Hetze sind ein gesamtdeutsches Problem. Nicht nur im Osten werden Politiker attackiert, sondern auch im Westen. Allein in diesem Jahr ist das, wie in Essen oder mehrfach in Baden-Württemberg, schon viele Male passiert – krankenhausreif geschlagen wurde freilich keiner. Das sollte jedoch nicht der Maßstab sein. Rechtsextremismus ist auch im Westen tief verwurzelt: Das zeigen etwa der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke , das rassistische Attentat von Hanau oder auch die Liste der Teilnehmer des sogenannten Potsdamer Geheimtreffens mit AfD-Politikern und Rechtsradikalen. Die Mehrheit von ihnen kommt aus dem Westen. Bittbrief an Unterstützer: Drahtzieher des Potsdam-Treffens plant nächste Schritte Auf das Engagement kommt es an Weniger mediale Aufmerksamkeit bekam im Anschluss an die Öffentlichmachung des Treffens die Reaktion der Zivilgesellschaft im Osten. Die Hunderttausenden, die auf den Straßen von Berlin oder Hamburg gegen Rechtsextremismus demonstrierten, bestimmten die Schlagzeilen überregionaler Medien. Dass ebenfalls Zehntausende in Städten wie Dresden , Rostock, Leipzig oder Bautzen protestierten, erfuhr allenfalls in der regionalen Berichterstattung Anerkennung. Doch gerade dort sollten wir hinschauen: Dort, wo sich engagierte Menschen offen gegen Rechtsextremisten stellen, die ihre Nachbarn sein könnten – nicht in anonymen Großstädten. Engagement ist das, worauf es ankommt – und das bedeutet auch: miteinander reden. Nur so können wir die Kluft zwischen Ost und West sowie unsere Vorurteile überwinden. Dazu gehört auch, die Lebensleistung von Menschen anzuerkennen, die in der DDR aufgewachsen sind. Gleichzeitig bringt es nichts, die Nachbarn im Westen für politische Fehler zur Verantwortung zu ziehen, die sie eigentlich nicht zu verantworten haben. Am wenigsten aber hilft es, seiner Wut auf die Politik mit Gewalt und Radikalismus Luft zu machen – egal, wo man lebt.

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