Alkoholkrankheit: Ein Gel soll körperliche Schäden durch Alkohol verhindern. Ein Durchbruch?
Es wäre zu schön: Alkohol in Mengen trinken, ohne Folgen wie Leberzirrhose oder Gehirnschäden zu erleiden. Ein neuartiges Gel weckt Hoffnungen.
Seit zwei Tagen quillt der Email-Account von Raffaele Mezzenga über. Es sind verzweifelte Hilferufe von Menschen, mit denen der Polymerphysiker an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich normalerweise nichts zu tun hat: Alkoholkranke. "Ich würde darum betteln, ein Produkt zu haben, das nur die Hälfte des von mir konsumierten Alkohols umwandelt und seine langsam tödliche Wirkung so verringert“, schrieb da zum Beispiel jemand. Für ein Telefonat mit dem stern hat der gestresste Forscher keine Zeit, nur für einen kurzen Email-Wechsel. Sein Arbeitstag sei bis 22 Uhr durchgetaktet, schreibt er.
Die Studie, die gerade erst beginnt, Furore zu machen, hat Mezzenga mit Forschenden aus der Schweiz und China in der hochrangigen Fachzeitschrift nature nanotechnology veröffentlicht. Das Team hat ein Gel entwickelt, das wie ein Hustensaft eingenommen werden könnte und die gesundheitsschädigende, aber auch die berauschende Wirkung von Alkohol reduzieren könnte. Es wäre tatsächlich ein Durchbruch, würde so etwas einmal funktionieren. Die große Einschränkung aber gleich vorweg: Bisher hat das nur bei Mäusen geklappt.
Gel verhindert Bildung von Acetaldehyd
Trotzdem sind die Ergebnisse der Studie beeindruckend. Offenbar vermag das Gel zu verhindern, dass bei der Verarbeitung von Alkohol in der Leber das Zwischenprodukt Acetaldehyd produziert wird, diese Zwischenstufe wird übersprungen bei der Umwandlung von Alkohol in Essigsäure. Das giftige Acetaldehyd ist für einige schwere körperliche Nebenwirkungen des Alkoholkonsums verantwortlich: Es spielt für die Entwicklung der Leberzirrhose eine wesentliche Rolle, aus der sich später Leberkrebs entwickeln kann, außerdem kann das Gift Nerven und Gehirn schädigen.
Für ihre Versuche setzten die Forschenden Mäuse unter so hohe Alkohol-Dosen, dass diese in einen komaartigen Schlaf fielen. Hatten sie aber zuvor das Gel bekommen, erwachten sie daraus zwei Stunden früher als ihre intoxikierten Artgenossen. Nach sechs Stunden wurden die Tiere in einem runden, mit Wasser gefüllten Becken ausgesetzt und konnten dort genauso schnell schwimmen wie Mäuse, die zuvor keinen Alkohol erhalten hatten, woraus die Forschenden folgern, dass sie wieder zu einem normalen Aktivitätslevel gefunden hatten.
Im Blut sank der Alkoholpegel bei ihnen deutlich schneller als bei den alkoholisierten Artgenossen, die kein Gel erhalten hatten. Bei Alkoholikern sind bestimmte Laborwerte erhöht, die auf Leberschäden hindeuten – bei den mit Gel behandelten Mäusen waren diese Werte niedriger als bei der Vergleichsgruppe, ihre Lebern schien also die Alkoholvergiftung besser zu tolerieren.
Als Mittel gegen Alkoholismus fraglich
Mit dem Wirkstoff würden die Forschenden Neuland betreten. Es gibt bislang keinen Wirkstoff gegen die giftigen Wirkungen von Alkohol und seinen Stoffwechselprodukten. Es wären viele Einsatzmöglichkeiten denkbar: In den Notaufnahmen könnten Patienten mit akuten Alkoholvergiftungen so behandelt werden – wer weiß, vielleicht könnte man sie dann dort ihren Rausch ausschlafen lassen, anstatt sie in teure Krankenhausbetten zu legen. Auch ein Einsatz im Lifestylebereich wäre denkbar – man könnte so ein Gel vorab schlucken, wenn man auf einer Party nicht um zwei, drei Gläser Wein rumkommt, später aber noch nachhause fahren will.
Fraglich ist hingegen, ob wirklich auch chronische Alkoholiker wie jener Verzweifelte profitieren würden, der Mezzenga eine Bettel-Mail schrieb. Wenn er, so wie viele Alkoholiker, ein sogenannter Pegeltrinker ist, würde er vermutlich einfach mehr trinken, um den gewohnten Alkoholspiegel im Blut zu haben, nach dem sein Gehirn verlangt.
Weitere Schritte unklar
Die Frage, wie es nun weitergeht, ließ Mezzenga unbeantwortet. Klar ist: Bis ein Wirkstoff auf dem Markt wäre, müssten erstmal Studien an Menschen erfolgen, um Fragen nach der nötigen Dosis, der Verträglichkeit und den Nebenwirkungen zu klären. Das wird viele Jahre in Anspruch nehmen.
Wer diese teure Forschung finanzieren würde, darüber kann derzeit nur spekuliert werden. Jedenfalls scheint man in China schon länger ein starkes Interesse an Wirkstoffen gegen schwere Nebenwirkungen des Alkoholkonsums zu haben, darauf verweisen einige Literaturstellen in der aktuellen Studie.
Bisher hatten sich Forschende dort mit pflanzlichen Präparaten aus der traditionellen chinesischen Medizin beschäftigt, mit überschaubarem Erfolg. Das gesteigerte Interesse der Chinesen ist keineswegs verwunderlich: So wie auch Koreaner und Japaner vertragen sie Alkohol schlecht, weil in ihren Lebern weniger Enzyme gebildet werden, mit denen Alkohol und sein giftiger Metabolit Aldehyd schnell abgebaut werden können.