Tradition – neu entdeckt: Nur Fleisch? Christian Rach über das Image deutscher Küche, die Lieblingsrezepte seiner Oma und vergessene Gerichte
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Braten, Saucen und Knödel, deftig und fettig – das verbinden viele mit deutscher Küche. Ein Vorurteil, sagt der Spitzenkoch Christian Rach. Ein Gespräch über die Vielfalt deutscher Gerichte, unser Gemüse – und die Küche seiner Großmutter.
Dieses Interview stammt aus dem stern-Archiv und wurde erstmals am 9. November 2023 veröffentlicht.
Herr Rach, wann haben Sie das letzte Mal so richtig gute deutsche Küche gegessen?
Erst kürzlich in Köln. Es gab Bio-Hühnchen, davon nur die Brust, und eine Gemüsebeilage: Petersilienwurzel und Karotten, gut gebürstet, nicht geschält, und anschließend schön im Ofen geschmort.
Ich denke eher an Gerichte wie Schnitzel, Spätzle, Sauerbraten …
Wir müssen uns fragen: Typisch deutsch, was ist das eigentlich? Was verstehen wir darunter, abseits von diesen landläufigen Gerichten? Um bei meinem Beispiel mit dem Hähnchen und dem Gemüse zu bleiben: Sehen wir uns doch einmal die Zubereitungsart an. Schmoren – scharf anbraten und im Anschluss garen lassen – ist traditionelle deutsche Küche. Meine Oma, Jahrgang 1903, hatte noch einen Ofen, den sie mit Holz und Kohle befeuerte. Darin schmurgelte oft Gemüse wie Schwarzwurzeln in einer gusseisernen Pfanne – selten auch mal Fleisch, wie wir es heute meist mit deutscher Küche verbinden.
Schwarzwurzeln dürfte heute kaum noch jemand kennen, geschweige denn wissen, wie sie zuzubereiten sind. Und auch der Ofen wird heute eher für die Fertigpizza als für ein Schmorgericht angeheizt. Sie haben kürzlich ein Kochbuch über die deutsche Küche herausgebracht. Ging es Ihnen auch um das Bewahren der Rezepte, die Sie noch von Ihrer Oma kennen?
Familienrezepte und Zubereitungstechniken wurden einst von Generation zu Generation weitergegeben. Das passiert heute kaum noch. Bewahren ist wichtig, aber es geht auch um Neu-Entdecken. Wir müssen nicht immer neidvoll in den Süden, in den Orient oder nach Asien blicken. Auch wir haben großartige Gerichte.
Ein Beispiel, bitte.
Entenbrühe. Meine Oma hatte immer zwei, drei Enten im Garten, die Ungeziefer vom Gemüse fernhielten. Die Tiere wurden auch geschlachtet. Meine Oma bereitete daraus eine Entenbrühe mit Senfkohl und Rüben zu – köstlich! Heute verbinden wir Entenbrühe eher mit der vietnamesischen Pho, weil wir vergessen haben, aus diesen Lebensmitteln Köstlichkeiten herzustellen. Tatsächlich kenne ich kein asiatisches Restaurant, das so großartige Brühen serviert wie jene, die es bei uns zu Hause in der Familie gab.
© Ydo Sol
Und doch scheint uns die Wertschätzung für die heimische Küche zu fehlen: In Großstädten wie Hamburg oder Berlin gibt es nur wenige Restaurants, die auf deutsche Küche spezialisiert sind. Woran liegt das?
Die Küchenlandschaft in Großstädten ist internationaler als auf dem Land. Trends setzen sich hier schnell durch. Vor einigen Jahren waren es die Burgerläden, die überall öffneten, dann kamen die Foodtrucks, und jetzt sehen wir viele Restaurants und Imbisse, die sogenannte Poké-Bowls verkaufen. Statt jedem neuen Trend hinterherzurennen, wäre es doch schön, Altes und Bewährtes neu zu entdecken. Wo kann man heute beispielsweise noch Schaschlik essen? Und damit meine ich nicht "Fleisch am Spieß", sondern Schaschlik mit reichlich Gemüse, einer Schmorsauce aus Tomaten und Paprika und vielleicht noch einem Stück geräuchertem Speck für den Geschmack.
Um das Image der deutschen Küche steht es nicht allzu gut. Kramen wir mal in der Vorurteilskiste. Ich bitte um Ihre Erwiderung: Deutsche Küche ist überwiegend deftig, fettig und salzig …
… so bekommt man deutsche Küche nur in schlechten Restaurants. Da fehlt es dann an Wissen und Handwerk …
… bei deutscher Küche werden Vegetarier nicht fündig …
… auch das natürlich: ein Vorurteil.
STERN PAID 02_24 Rezepte Christian Rach
Und doch gibt es in Restaurants, die traditionelle Küche servieren, vor allem: Fleisch.
Das ist ein Ergebnis der Wohlstandsentwicklung, ein Prozess, der bei uns in den 60er- und 70er-Jahren eingesetzt hat. Fleisch war plötzlich jederzeit verfügbar und durch das Aufkommen der Massentierhaltung auch noch extrem billig. Durch die Vakuumtechnik konnte zusätzlich Fleisch aus aller Herren Länder importiert werden. Dafür muss es nicht einmal tiefgekühlt sein. Rindfleisch kam plötzlich aus Südamerika, aus Argentinien und Brasilien. Das hat auch bei uns eine Industrie entstehen lassen, die den Hype nach Fleisch bedient hat.
Wie aßen wir, bevor vakuumverpacktes Fleisch containerweise angeschifft wurde?
Die deutsche Küche kommt aus einer Gemüsetradition. Wir haben das nur vergessen und auch ein Stück weit den Bezug zur Natur verloren. Kein Mensch hat früher die Stängel und Blätter von Rübchen weggeschmissen oder von der Petersilie nur das Grün verwendet und die Wurzel entsorgt. Gemüse wie Möhren, Kohl, Kürbis, Bohnen und Kartoffeln gab es rauf und runter, meist aus dem eigenen Garten. Dazu auch Mehlspeisen, und dazwischen mal einen schönen Braten, aber der war nicht die Regel. Wenn unsere Vorfahren Tier aßen, dann das ganze Tier – auch die Schweinsohren, Schnauzen, Schwänzchen und Innereien, nicht nur kleine edle Teilchen wie das Steak. Ich habe nichts gegen ein schönes Steak einzuwenden, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ich sehe unsere Entwicklung hin zu ausschließlichen "Edelteil-Fressern" kritisch.
Verraten Sie uns doch einmal drei regionale Gemüse, die neu entdeckt werden wollen.
Ich denke da zum Beispiel an ein schönes Schmorgurkengericht. Die Gurken füllen wir mit Hirse, getrockneten Früchten und Haselnüssen – einfach köstlich. Karotten verwerten wir im Ganzen und bereiten aus dem Grün ein schmackhaftes Pesto zu, dafür braucht es kein Basilikum. Wenn die ersten Gemüse im Frühjahr kommen, lohnt es sich, nach Mairübchen Ausschau zu halten. Auch die lassen sich komplett verwerten: die Blätter blanchieren, die Stiele anbraten und die Rübchen grillen. Mit Schalotten, Butter, Salz, Kräutern und etwas Zitrone und schwarzen Oliven entsteht so ein wunderbares Gericht: Dreierlei vom Mairübchen.
© Katrin Koschitzki/Südwest Verlag
Zitronen und Oliven wachsen hierzulande nicht, auch Hirse stammt heute vielfach aus chinesischem Anbau. Wie wichtig ist Regionalität?
Regionalität ist eigentlich schon das Zauberwort. Es muss nicht immer alles bio sein. Regionalität und Saisonalität gehen Hand in Hand, und wenn wir wieder lernen, mit den Jahreszeiten zu leben, dann machen wir schon sehr viel sehr richtig, auch in Hinblick auf Umweltbelastung und Klimawandel. Gleichzeitig bin ich gegen strenge Verbote. Auch Pfeffer ist nicht regional, und doch käme niemand auf die Idee, ihn aus der Küche zu verbannen. Orientalische Gewürze, Ingwer, Oliven, aber auch Zitronen – wir leben in einer globalisierten Welt und müssen nicht so tun, als gäbe es all diese Dinge nicht in unserem Supermarkt. Es gilt die richtige Balance zu finden. Hirse wächst beispielsweise auch in Mecklenburg-Vorpommern, und niemand muss Buschbohnen aus Marokko in den Einkaufskorb legen, wenn es zeitgleich auch solche aus heimischem Anbau gibt. Oder aber im tiefsten Winter Erdbeeren kaufen, nur weil sie für das Weihnachtsdessert gebraucht werden.
Regional und saisonal einkaufen ist im Winter schwierig. Was gibt es denn da außer Kohl?
Karotten, Äpfel, Kartoffeln, Rote Bete… Und Kohl ist ja nicht gleich Kohl. Es gibt Spitzkohl, Wirsing, Blumenkohl, Rosenkohl, Rotkohl, Weißkohl und vieles mehr. Übrigens schmeckt der auch hervorragend als Sauerkraut, das man am besten frisch kauft – das ist wunderbar gesund, voller Vitamine und Mineralstoffe.
Wie halten Sie es mit tiefgekühlter Ware oder Gemüse aus dem Glas – empfehlenswert?
Ich bin kein allzu großer Freund von Bohnen aus dem Glas, die sind schnell matschig, ebenso wie tiefgekühlte grüne Bohnen. Aber ich kaufe gern Kichererbsen aus dem Glas, um daraus Hummus zu machen. Bei Erbsen kann man guten Gewissens auch zur Tiefkühlware greifen. Sie werden direkt nach der Ernte eingefroren. Oft ist hier die Qualität sogar besser als bei vermeintlich "frischen" Erbsen, die vielleicht schon eine Woche liegen.
Wie verhunzt man ein deutsches Gericht so richtig?
Bei Käsespätzle kann man einiges falsch machen…
… zum Beispiel Sahne beimengen.
Das geht gar nicht. Punkt. Und da darf auch nichts anderes dazu als ein junger Kopfsalat mit einem säuerlichen Dressing und Petersilie, dann ist das herrlich. Die Zwiebeln sind auch wichtig. Bitte nicht untermischen. Die gehören auf die Spätzle.
© Südwest Verlag
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Deutschland immer auch ein Suppenland war. Und doch behandeln wir Suppen oft stiefmütterlich: Suppe ist bestenfalls eine Vorspeise. Woran liegt das?
Das stimmt, mit ein paar Ausnahmen wie der allgegenwärtigen Kürbissuppe. Bei den Suppen fehlt uns leider ein Stück weit die Fantasie und die Wertschätzung: Was gibt es Schöneres, als im Winter eine warme Suppe zu löffeln? Ich kann da nur appellieren: Liebe Leute, kocht Suppen! Kauft ein Stück geräucherten Fisch oder Aal und macht aus den Gräten eine Suppe. Oder kauft ein Huhn und kocht aus der Karkasse eine Suppe. Schon unsere Großeltern wussten, dass eine schöne Hühnersuppe die beste Stärkung in der Erkältungszeit ist. Eine Suppe gelingt auch ganz ohne Fleisch, nur mit Gemüse, zum Beispiel aus den Schalen und Abschnitten. Wir können alles verwerten und tun unserem Körper nur Gutes damit.
Was ist der Wert des Kochens für Sie persönlich?
Dass ich weiß, was drin ist, was ich meinem Körper da eigentlich zuführe.
Von einem Koch hätte ich eher einen längeren Monolog über die verschiedenen Aromen und Kompositionen erwartet.
Nicht umsonst reden wir von Lebensmitteln. Es sind Mittel zum Leben, der Treibstoff für unseren Körper. Unsere Ernährung entscheidet mit darüber, ob wir gesund sind oder krank. Eine Vielzahl von Krankheiten ist ernährungsbedingt oder wird durch unsere Ernährung beeinflusst. Wir sind also ein Stück weit der Schmied unserer eigenen Gesundheit. Dieses Bewusstsein gilt es zu stärken. Und wir machen doch sonst auch viel, um gesund zu bleiben: Wir versuchen uns ausreichend zu bewegen, machen Sport. Nur beim Essen werden wir nachlässig.
Dabei wissen wir längst, was uns guttut: frisch und abwechslungsreich kochen, mit viel Gemüse, möglichst nicht zu süß und nicht zu viel Zucker. Warum machen wir das nicht einfach?
Wir Verbraucher fallen leicht auf Werbung und Trends rein. Auf der Verpackung von Lebensmitteln steht dann etwa "ohne Zuckerzusatz", aber nachgesüßt wird oft trotzdem mithilfe von Süßstoffen oder Zuckeraustauschstoffen. Nicht alles, was vermeintlich gesund daherkommt, ist es auch. Oft höre ich auch: Ich habe keine Zeit zu kochen. Das Argument lässt sich schnell entkräften. Wie lange brauchen Nudeln mit einer selbst gekochten Gemüsesauce, ein Gericht, das ohne Zusatzstoffe auskommt? Nicht länger als 20 bis 30 Minuten. Ähnlich lange dauert es, den Ofen vorzuheizen und eine Fertigpizza aufzubacken. Klar, ein aufwendiger Schmorbraten glückt in der Zeit nicht. Aber wer will abends nach der Arbeit schon einen Braten zubereiten?
Gibt es eigentlich ein Gericht, das Ihnen so gar nicht schmeckt?
Milchreis. Oder auch Grießbrei.
Was stört Sie daran?
Früher hieß es: Der Junge verträgt das nicht. Auf Neudeutsch würde man sagen: Ich habe eine Laktoseintoleranz. Sicher, ich könnte einfach eine Tablette einwerfen. Aber warum sollte ich? Ich höre da auf meinen Körper.
Was sind die drei Hauptzutaten, die Sie immer zum Kochen zu Hause haben?
Neben Mehl und Co.: Butter, gute Eier und Olivenöl.
Wir haben viel über gute Küche und authentisches Essen gesprochen. Würde es Sie nicht noch einmal reizen, ein Restaurant mit deutscher Küche zu eröffnen, vielleicht in Hamburg, wo Sie leben?
Nein.
Eine knappe Antwort.
Die längere Antwort wäre: Ich habe mein Leben lang gearbeitet, zwischen 80 und 90 Stunden in der Woche. Ich habe alles erreicht, was ich wollte. Auch ein Maurer und ein Arzt hören ja irgendwann auf. Ich bin noch nicht im Ruhestand, ich arbeite freiwillig ungefähr 40 Stunden in der Woche. Aber die Zeit und die Termine kann ich mir selbst einteilen. Das ist meine Freiheit.
An der fehlenden Liebe zum Kochen liegt es also nicht.
Ganz sicher nicht. Aber wenn mir heute die Schulter wehtut, dann dauert es drei Tage, bis die Schmerzen wieder weg sind; früher dagegen vielleicht ein paar Stunden. Das ist einfach so. Den Schulterschmerzen komme ich aber gut mit intensivem, kraftvollem Yoga bei, welches ich zweimal die Woche praktiziere – auch eine ausgewogene, lustvolle Ernährung hilft mir, fit zu bleiben. Ich fühle mich nicht alt. Aber das gefühlte und das biologische Alter gehen dann doch manchmal auseinander. Deswegen achte ich ganz bewusst auf meinen Körper und meine Gesundheit.