Krieg in Nahost: Deutsch-Palästinenserin verlor 19 Verwandte im Krieg: "Mit der Seele bin ich in Gaza"
Bei der Bombardierung einer Flüchtlingsstadt starben 19 Verwandte von Iman Abu El Qomsan, einer jungen Deutsch-Palästinenserin. Der stern traf sie im Ruhrgebiet.
Ein Bild geht um die Welt: eine graue Trümmerlandschaft, übersät mit riesigen Kratern. Es ist der letzte Oktobertag, ein Dienstag, als um 14.30 Uhr Ortszeit Bomben auf eine Häuseransammlung im nördlichen Gazastreifen fallen. Der arabische Nachrichtensender Al Jazeera berichtet. Menschen drängen sich um die Einschlagskrater, ziehen Verletzte und Tote aus den Trümmern. Bei dem israelischen Luftangriff auf die Flüchtlingsstadt Dschabalija sollen mehr als 110 Menschen ums Leben gekommen sein. Am Ende sagt die Moderatorin von Al Jazeera noch, dass einer der Rundfunkingenieure des Senders insgesamt 19 Familienmitglieder bei dem Bombardement verloren habe. Sein Name: Mohammad Abu al-Qumsan.
Sie erkennt den Nachnamen des Toten in den Nachrichten – es ist ihr eigener
In Dorsten, im Norden des Ruhrgebiets, sitzt Iman, 24, zusammen mit ihrer Mutter vor dem Fernseher und schaut die Nachrichten. Das machen sie in den vergangenen Wochen oft. Als Iman den Bericht über Dschabalija sieht, erkennt sie die grauen, dicht beieinanderstehenden Wohnblöcke. Sie erkennt auch den Namen des Rundfunkingenieurs – es ist ihr eigener Nachname. Der Al-Jazeera-Ingenieur Muhammad ist ihr Großcousin, ein Cousin ihrer Mutter. Iman und ihre Mutter starren auf den Bildschirm, so erzählt sie es später, und ihnen wird klar, dass nicht nur Muhammad Abu al-Qumsan 19 Familienmitglieder verloren hat, sondern auch sie selbst.
Der stern trifft Iman Abu El Qomsan in einem Café in der Essener Innenstadt. Vor ihr auf dem Tisch steht ein Pfefferminztee, um sie herum das übliche Cafégetümmel. "Das war ein Schock für uns. Meine Mutter ist in Dschabalija aufgewachsen, sie hat das zerbombte Haus sofort erkannt", erzählt Iman. Arabische Namen können bei der Transkription in der Schreibweise variieren, deswegen heißt Iman Abu El-Qomsan und ihr Großcousin Abu al-Qumsan, es ist aber derselbe Nachname.
Unter den toten Familienmitgliedern sind ihr Großonkel, zwei Großtanten und zwei weitere Großcousinen. Und dann sei da noch ihr Großcousin, der kleine Fuad, gerade mal zwei Jahre alt, sagt Iman. Bis heute wurde er in den Trümmern des zerbombten Hauses nicht gefunden. Fuads Vater wurde schwer verletzt gerettet. Eine Cousine wird mehrere Tage nach der Bombardierung noch lebend gefunden. Seitdem steigt und steigt die Zahl der getöteten Mitglieder der Familie, die über den ganzen Gazastreifen verstreut lebt. Arabische Familien sind oft groß, allein ihr Vater habe zehn Geschwister, erzählt Iman. Ihren Nachnamen gebe es aber nur einmal in Gaza.
Ein besseres Leben in Deutschland? "Ein sicheres vor allem", sagt Iman
Iman Abu El Qomsan ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Viele Jahre war sie staatenlos, inzwischen besitzt sie einen deutschen Pass und eine sogenannte Gaza-ID, ausgestellt von Israel, die ihr die Einreise in das schmale Küstengebiet erlaubt. Imans Eltern stammen aus dem Gazastreifen, ihr Vater zog in den 1990er-Jahren für sein Medizinstudium nach Deutschland, er arbeitet längst als Unfallchirurg und Orthopäde. Ihre Mutter kam später nach und erledigt heute die kaufmännische Arbeit in der Praxis.
Anders als andere Familienmitglieder wollten Imans Eltern für immer in Deutschland bleiben. Ihre Kinder sollten ein besseres Leben haben. Ein besseres Leben? "Ein sicheres vor allem", sagt Iman. Sie erzählt, dass ihre Großeltern während der Nakba – der Flucht und Vertreibung von bis zu 750 000 Palästinensern nach Israels Staatsgründung im Jahr 1948 – aus Jaffa vertrieben worden seien. Viele flüchteten an die Küste, nach Dschabalija in den nördlichen Gazastreifen. Hier ist Imans Mutter aufgewachsen. Ihr Großvater baute einst für die Familie ein Haus im Flüchtlingslager. Als die Familie wuchs, zog ein Teil in den Süden Gazas, sie behielt jedoch auch immer dieses erste Zuhause.
Seit Ende Oktober steht das Haus nicht mehr. Stattdessen: ein breiter Einschlagskrater. Nach den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober sei allen in der Familie klar gewesen, dass die Lage eskalieren würde, sagt Iman. "Der Tod so vieler Zivilisten hat auch uns entsetzt."
In den Wochen nach dem 7. Oktober flohen viele Familienmitglieder vor den israelischen Bomben vom Norden in andere Regionen. Als die ebenfalls bombardiert wurden, zog ein Teil von Imans Familie zurück nach Dschabalija – genau in dem Moment, als das großväterliche Haus getroffen wurde. Wenn Iman von ihrer Familie in Gaza spricht, macht sie viele Pausen, atmet langsam, oft steigen ihr Tränen in die Augen. Man sieht ihr die Belastung und die Trauer der letzten Wochen an.
Wie soll sie den jüngeren Geschwistern vom Leiden und Sterben in Gaza erzählen?
Mitte November schätzten die Vereinten Nationen die Zahl der in Gaza getöteten Zivilisten auf etwa 11.000. Mit ihrer Familie zu Hause in Deutschland kann sie kaum über die Situation sprechen. Sie traue sich nicht, sagt sie. Iman ist das älteste von fünf Geschwistern, ihre jüngste Schwester geht noch in die Grundschule. Wie soll sie den Jüngeren vom täglichen Leiden und Sterben in Gaza erzählen? Davon, dass kleine Kinder allein auf einem Krankenhausboden zugrunde gehen? "Man versucht, das zu verdrängen", sagt Iman.
Sie war das letzte Mal im Jahr 2015 mit ihrer Familie in Gaza. Sechs Wochen Sommerferien haben sie dort verbracht, die Hälfte der Zeit in Dschabalija. Sie wäre gern öfter gekommen, doch die Einreise ist zermürbend aufwendig: Die Familie muss ins ägyptische Kairo fliegen, dann an die Grenze nach Rafah fahren und dort mehrere Tage ausharren, bis die Grenzsoldaten sie gegen ein Bestechungsgeld nach Gaza einlassen. Ähnlich verlaufe die Rückreise. Doch wenn Iman von den Ferien in Gaza erzählt, hellt sich ihr Gesicht auf. Sie hat ihre Cousinen in die Schule begleitet, ihr Großvater war dort Schulleiter. Sie mochte die Schuluniform, sie erinnert sich an das Meer, an die vielen Hochzeiten, für die ihr Haar vom Friseur aufwendig gemacht wurde. An frisch gepressten Guavensaft.
Sie vermisst das Essen ihrer Oma. Sie vermisst ihren Großonkel mütterlicherseits, der immer und jederzeit zum Spielen aufgelegt war. Er hieß Fuad, wie der kleine Großcousin, der nun vermisst wird. "Wenn ich gewusst hätte, dass ich ihn das letzte Mal sehe, wäre ich diesen Sommer noch einmal nach Gaza gefahren", sagt Iman. Ihr Großonkel sei bei Bombenangriffen im Süden Gazas getötet worden.
Der Tod von Familienmitgliedern sei für Palästinenser "nichts Neues", sagt Iman. Den Nahostkonflikt beschreibt sie als Generationentrauma. Es wird in palästinensischen Familien immer weitergereicht – gerade ist es nahezu unerträglich groß. "Das frisst einen auf. Man schaut den ganzen Tag Nachrichten und kann sich auf gar nichts konzentrieren", sagt Iman.
Von ihren Freunden fühlt sie sich getragen und getröstet
Es sei schwierig, den Kontakt zu ihrer Familie aufrechtzuerhalten, da das Internet in Gaza ständig ausfalle und die Verbindung zum Telefonieren zu schlecht sei. Das letzte Mal hatte sie Mitte November Kontakt. Es sind knappe Dialoge, kurze Lebenszeichen: "Salam Aleikum, Onkel, wie geht es euch?" – "Allah sei Dank geht es uns gut." Iman sagt: "Ich warte immer auf den zweiten blauen Haken. Dann weiß ich, dass die Nachricht auch wirklich angekommen ist."
Aus den Whatsapp- und Telegram-Chats ihrer Familie ist Iman mittlerweile ausgetreten. Sie kann die Bilder nicht mehr ertragen und möchte auch nicht mehr lesen, wer gerade gestorben ist. Stattdessen postet sie viel auf X (früher Twitter).
Sie ist stolz auf ihre Herkunft, in ihrer Profilbeschreibung steht "Palestinian, Gazian". Sie will auf das Leid der Zivilbevölkerung und ihrer Familie aufmerksam machen, sie fühlt sich verpflichtet, wenigstens das zu tun. Und wird dafür immer wieder angefeindet. "Die haben alle den Tod verdient", steht in den Kommentaren. Manche behaupten auch, Iman habe die toten Familienmitglieder bloß erfunden. "Solche Leute blockiere ich", sagt sie.
Iman studiert Chemie in Münster, absolviert gerade ein Praktikum in den Niederlanden. Ihre Freunde kommen aus Deutschland, Brasilien, Kolumbien, einige haben selbst palästinensische Wurzeln. Von ihnen fühlt sie sich getragen und getröstet.
Aber sie quält die Frage, wann der Krieg endet und was danach kommt: "Was ist mit den Menschen, die aus dem Norden vertrieben wurden? Was ist mit all den Kindern, die ihre Eltern verloren haben? All die Familien, die ausgelöscht wurden? Das vergisst man doch nicht. Niemand dort."
"Es ist, als wäre palästinensisches Leben nichts wert"
Deutschland sei ihre Heimat, sagt sie, und auch die von den geschätzt 200 000 Palästinensern, die hier leben. Doch gerade fühle sie sich fremd und von der deutschen Politik im Stich gelassen. Die Berichterstattung der Medien enttäuscht sie, das Leid der Palästinenser werde ignoriert. "Es ist, als wäre palästinensisches Leben nichts wert", sagt sie. "Körperlich bin ich hier, aber mit der Seele bin ich in Gaza."
Iman hat während des Gesprächs ihren Pfefferminztee nicht angerührt. Nun ist er kalt. Sie sagt, sie fühle sich schuldig, dass sie genug zu essen und trinken habe, während es ihrer Familie in Gaza so schlecht gehe.