Geiselnahme in Hamburg: Verhandlungsexperte: "Das ist eine Kunst. Was die Kollegen in Hamburg geleistet haben, ist sensationelle Arbeit"
Klaus Kapinos war Polizeihauptkommissar und Leiter der Flughafenpolizei in Hamburg, Verhandler bei Entführungen und Geiselnahmen wie der von Jan Philipp Reemtsma. Dem stern erklärt er, welche Taktiken die Polizei bei einer Geiselnahme anwendet.
Samstagabend, 20 Uhr, ein 35-jähriger Mann durchbricht mit seinem Auto eine Schranke, fährt aufs Rollfeld des Hamburger Flughafens, schießt in die Luft und bleibt unter einer Maschine der Turkish Airways stehen. Vor dem Auto liegt eine vermeintliche Sprengstoffweste. Die Ermittler wissen noch nicht, dass es eine Attrappe ist.
Mit im Wagen: die vierjährige Tochter des Täters. Seine Geisel. Die Forderung: Mit ihr in die Türkei ausreisen zu dürfen. Mehr als 18 Stunden lang sprechen Verhandler mit dem Mann, bis er schließlich aufgibt, sich festnehmen lässt und seine Tochter der Polizei übergibt.
Einer, der solche Verhandlungen sehr gut kennt, ist Klaus Kapinos. Er war Polizeihauptkommissar, zuletzt Leiter der Flughafenpolizei in Hamburg und selbst Verhandler bei Entführungen und Geiselnahmen wie der von Jan Philipp Reemtsma. Heute arbeitet er als Dozent und Personaltrainer im Verband für Sicherheit in der Wirtschaft Norddeutschland. Im stern-Interview erklärt Kapinos, welche Taktiken die Polizei bei einer Geiselnahme wie der am Hamburger Flughafen anwendet, ob man Täter anlügen darf und ab wann man eine Geisel aufgeben muss.
Herr Kapinos, als Sie von der Geiselnahme gehört haben – was ging Ihnen da durch den Kopf?
Es war Samstagnacht, 22 Uhr, ich habe die Nachrichten geschaut und direkt gedacht: Eine Geiselnahme, mitten auf dem Rollfeld des Flughafens, das ist ein Worst-Case-Fall. Kein alltäglicher Vorgang. Ein Ausnahmefall, der alle Polizisten und das Sicherheitspersonal fordert. In Sekundenschnelle waren mir Erinnerungen an eigene frühere Einsätze präsent.
Erzählen Sie.
Ich musste an meinen Einsatz bei der Entführung von Jan Philipp Reemtsma denken. Wir waren damals vier Wochen im Einsatz. Wir haben alles gegeben, alles, was man vermag, um die Geisel zu befreien und zurück zu ihrer Familie zu bringen.
Was war Ihre Rolle?
Ich war in der Verhandlungsgruppe, eine Spezialeinheit der Polizei, die etwa bei Entführungen oder Geiselnahmen mit dem Täter verhandelt. Jeder muss in so einer Gruppe in der Lage sein, die Sprecherfunktion zu übernehmen. Ich selbst habe nicht mit den Entführern gesprochen, meine Aufgabe war es, mich um Reemtsmas Kind zu kümmern und Ansprechpartner der Betreuer zu sein, die sich um die Familie kümmerte. Bei einer Geiselnahme wie jener in Hamburg ist die Sprecherrolle die entscheidende Funktion. Bei einer Entführung dagegen hat man gewöhnlich weniger unmittelbaren Kontakt zum Täter.
STERN PAID Flughafen Kommentar 14.30
Es heißt, die Verhandler in Hamburg waren konstant im Kontakt mit dem 35-jährigen Vater. Wie muss man sich das vorstellen?
Das sind keine Dauergespräche, sondern immer Teilgespräche. Man lässt den Täter auch mal in Ruhe und sagt, in 15 Minuten rufe ich wieder an. Es wird nicht ununterbrochen gesprochen. Es sei denn, der Täter verlangt das.
Ist es sinnvoll, dass nur eine Person mit dem Täter spricht, damit dieser sich nicht ständig auf jemand Neues einstellen muss?
Wenn die Kommunikation gut läuft, ist das sinnvoll. Es sei denn, der Verhandler oder die Verhandlerin ist erschöpft, kommt an ihre Grenzen, dann braucht man eine Ablösung. Das sollte man dann mit dem Täter vereinbaren. Aber wenn er keinen anderen Sprecher akzeptiert, wäre ein Wechsel nicht ratsam. Dann muss man als Sprecher auch mal 18 Stunden durchhalten.Das sind menschliche Grenzen, die da überschritten werden. Das ist eine Extremsituation.
Wie eröffnet man ein Gespräch mit Geiselnehmern?
Dasist relativ einfach. Man stellt sich vor. Sagt, wer man ist und, dass man der Sprecher der Polizei sei, dass man den Kontakt aufnehmen möchte. Und dann wird der Täter schon reden und erklären, was seine Absicht ist.
Sie können natürlich nicht die Einsatzstrategien der Polizei preisgeben. Aber können Sie grundlegend sagen: Welche Gesprächstechniken funktionieren?
Das ist von der Situation abhängig. In diesem Fall war der Täter in einem hochemotionalen Zustand. Man muss ihn beruhigen und sein Misstrauen abbauen. Und dann die emotionale Ebene verlassen, auf die Sachebene kommen. Wenn eine Forderung kommt, muss man die abwägen und schauen, ob man sie erfüllen kann. Im aktuellen Fall hieß das zum Beispiel, dem Mann zu erklären, was geht und was nicht, was seinen Forderungen entgegensteht. Er wollte ja in die Türkei fliegen mit seinem Kind. Da muss man ihm sagen: Das geht nicht, aus rein rechtlichen Gründen. Sie bekommen in der Türkei keine Landeerlaubnis, wenn Sie Ihr Kind entführen.
Worauf kam es Ihrer Meinung nach in Hamburg bei der Verhandlung besonders an?
Aus den Medien wusste ich, dass die Geisel das leibliche Kind des Täters war. Deshalb vermute ich, dass die Verhandler an sein Gewissen appelliert haben: Dass sein Kind ein Recht hat, zu leben, ohne große Ängste aufzuwachsen. Dass er sich versündigt, wenn er seinem Kind Schaden zufügt. An das Menschliche zu erinnern ist bei einer solchen emotionalen Tat sinnvoller als zum Beispiel bei einer Lösegelderpressung.
Was ändert sich an der Gesprächstaktik, wenn ein Kind mit im Auto sitzt?
Die Kollegen vor Ort werden sicherlich früh geprüft haben, ob der Täter suizidal ist, ob die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet und sein Kind auch, damit es nicht zurück zur Partnerin kommt. Das schien hier nicht der Fall gewesen zu sein. Die Kollegen haben vermutlich versucht, dem Täter Hoffnung zu vermitteln. Dass das Leben weitergeht und es eine Perspektive für ihn gibt. Aber das hängt stark vom Einzelfall ab und ist alles Gesprächstechnik.
Wie lernt man die?
Das sind bundeseinheitliche Richtlinien. Es gibt in jedem Bundesland Verhandlungsgruppen. In Nordrhein-Westfalen sogar mehrere. Die Gesprächsschulungen beruhen auf psychologischen Erkenntnissen. Die lernt man. Aber man muss immer auch querdenken: Reden und dabei blitzschnell kombinieren. Und: Man darf sich von der Situation nicht selbst emotional anstecken lassen. Man muss als Sprecher ständig auf der Sachebene bleibe, darf nicht emotional reagieren. Das wäre ein Risiko.
Sind Verhandler alle von einem bestimmten Schlag Mensch?
Nein. Das ist Lebenserfahrung. Das ist Geschick in der Kommunikation. Und wie bei einer normalen Kommunikation in der normalen Interaktion zwischen Menschen ist es auch bei einer solchen Verhandlung so: Der eine kommt gut rüber und der andere nicht. Einer redet und weckt beim anderen Aggressionen, der nächste kommt gut an. Man muss flexibel sein und sich auf die Situation einstellen. Alle Informationen im Kopf haben darüber, was bisher gelaufen ist, was die Hintergründe des Täters sind, um ein Gesamtbild zu haben. Das ist eine Kunst. Was die Kollegen jetzt in Hamburg geleistet haben, ist sensationelle Arbeit. Der Erfolg zeigt, die verstehen ihr Handwerk, die Ausbildung und das Training sind exzellent.
Details Geiselnehmer Flughafen Hamburg 17.28
Gibt es Situationen, in denen Verhandler aufgeben?
Man gibt nicht auf. Das Ziel zu erreichen, also die Befreiung der Geisel, das geht im Grunde bis zum Schluss. Es gibt natürlich andere Fälle, wie in Israel aktuell oder damals bei den Verhandlungen mit der RAF, wo politische Motive oder die Staatsräson eine Rolle spielen. Das ist eine völlig andere Ebene. Hier ging es um Kriminalität und im Grunde um einen Menschen in einer schwierigen psychischen Verfassung. Da sind Kurzschlusshandlungen eine Gefahr, die muss man versuchen zu verhindern.
Darf man Geiselnehmer anlügen?
Im Prinzip ja. Moral spielt in dieser Situation keine Rolle. Nur wenn ich weiß, ich kann eine Forderung nicht erfüllen, und der Täter wird das erfahren, sollte ich nicht lügen.
Welche Rolle spielen Angehörige, wie im aktuellen Fall die Mutter des Kindes, bei der Verhandlung?
Die Mutter appellierte wahrscheinlich an den Mann: Lass das Kind frei, hör auf! Lass es leben, wir werden eine Lösung finden. Und womöglich kann sie den Täter einschätzen, weil sie ihn ja kennt, wird ihn den Verhandlern beschrieben haben.
Gibt es bei Geiselnehmern Muster, bestimmte Typen von Menschen, die so etwas tun?
Es kann ein Berufsverbrecher sein. So wie Drach, der Entführer von Reemtsma. Der war durch und durch kriminell. Er hat das ganz strategisch gemacht, um an die Millionen zu kommen. Eiskalt geplant und durchgeführt. Dann gibt es Psychopathen. Oder hoch emotionalisierte Menschen, aufgrund von verschiedenen Lebensumständen. Es gibt ganz viele verschiedene Situationen, auf die sich die Polizei jeweils einstellen muss.
Erleiden Verhandlerinnen oder Verhandler Traumata?
Wenn was schief läuft, ja. Etwa wenn man am Telefon ist bei einem Schusswechsel. Verhandler sind Menschen und keine Roboter. Die Gruppe selbst führt Gespräche hinterher. Es gibt eine Manöverkritik und auch Supervision.
Sie waren Leiter der Flughafenpolizei in Hamburg. Wie kann, wie sollte man den Flughafen besser schützen?
Durch Einbau von Sicherheitstechnik etwa. Poller aufstellen oder hydraulisch aus dem Boden fahren lassen. Einfahrsperren bauen. Aber das ist Sache der Luftfahrtbehörde. Ob das erforderlich ist, kann ich nicht beurteilen. Es ist ja auch jahrzehntelang gut gegangen. Ich wüsste von keinem anderen Fall, in dem jemand mit einem Fahrzeug durch eine Schranke gebrochen wäre. Es sind höchstens vereinzelt Fußgänger über Schranken geklettert. Deshalb würde ich dem Flughafen Hamburg jetzt keinen Vorwurf machen. Was man jetzt aber sicherlich bedenken muss, ist, dass es potenzielle Nachahmer geben könnte. Darauf müsste die Behörde reagieren, auch mit baulichen Maßnahmen.
Sind Deutschlands Flughäfen unsicher?
Das würde ich nicht sagen. Auch nicht nach dem Vorfall mit der Letzten Generation, den Aktivisten, die sich festgeklebt haben. Das sind neue Erscheinungsformen, darauf muss man reagieren. Der Flughafen erweitert sein Sicherheitskonzept bereits.