Bewältigung des Terros: Warum eine junge israelische Journalistin Nachrufe für alle Todesopfer des Terrors schreibt
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Amy Spiro schreibt nachts und am Wochenende über die von der Hamas getöteten Menschen in Israel. Warum? Und wie kommt sie an die Geschichten?
Die 34-jährige Amy Spiro hat nicht viel Zeit. In ihrem Lieblingscafé in Jerusalem guckt sie immer wieder auf die Nachrichten, die auf ihrem Handy aufblinken, meist von ihren Kollegen von der Zeitung “Times of Israel”. Sie steht auch in Kontakt mit Angehörigen der Menschen, die am 7. Oktober von der Hamas getötet wurden. Ihre Zeitung hat entschieden, unter dem Namen “Those we have lost” – jene, die wir verloren haben – Nachrufe über so viele Toten des Terrors, wie es nur geht, zu veröffentlichen. Amy Spiro schreibt die meisten davon, zwischen Nachrichtenschichten in der Redaktion und Nächten voller Angst und Trauer. Während des Gesprächs über ihre Arbeit in den vergangenen Wochen kommen ihr immer wieder die Tränen. Hier erzählt Amy Spiro, wieso sie die emotionale Aufgabe dennoch auf sich nimmt.
Israel ist nicht nur ein kleines Land, sondern wir sind auch sehr vernetzt – man kennt sich. Wann immer es einen Terroranschlag gab, wenn Soldaten gefallen sind, haben sich mir die Gesichter der Verstorbenen eingeprägt. Man erinnert sich an sie. Jedes einzelne ausgelöschte Menschenleben ist eine ganze Welt für sich, die zusammenbricht. Als ich am 7. Oktober die schier unbegreifliche Anzahl der getöteten und entführten Menschen aus Israel sah, dachte ich: Wie können wir es schaffen, dass diese Menschen nicht vergessen werden? Dass wir ihre Gesichter auch in unserem Gedächtnis verankern und sie nicht als einer von vielen Untergehen? Dann hatten wir bei der “Times of Israel” die Idee.
Wir haben nun drei Artikelserien: “Jene, die wir Helden nennen.” “Jene, die wir Vermissen”, über die Geiseln. Und “Jene, die wir verloren haben.” Ich habe mich gemeldet, die Nachrufe zu schreiben. Ich finde es wichtig, über die Menschen nicht nur zu erfahren, wie sie getötet wurden. Sondern vor allem, wie sie gelebt haben. Für was sie sich begeisterten, was sie anderen Menschen bedeuten.
In den ersten Tagen nach dem Angriff habe ich mich gefühlt wie ein Zombie. Die Tage verschwimmen miteinander, wenn ich versuche, mich daran zu erinnern. Dann begann ich, ein paar Artikel über Beerdigungen zu schreiben. Und nun die Nachrufe. Das tue ich zusätzlich zu meiner Hauptarbeit bei der Zeitung – dort kümmere ich zum Beispiel auch darum, was gerade aktuell weiter im Konflikt passiert. Es gibt so viel zu berichten und so wenig Zeit.
Die Nachrufe schreibe ich häufig nach der Arbeit um zwei oder drei Uhr in der Nacht. Inzwischen habe ich mehr als 50 geschrieben. Manche von ihnen sind über einzelne Menschen, manche sind über ganze Familien, die ausgelöscht wurden. Auch andere Redakteure schreiben einzelne Beiträge für diese Seite. Darunter sind ganz besondere Geschichten: Ein Holocaust-Überlebender, der wie ein Großvater für seinen Kibbuz war. Eine junge Frau, die Schauspielerin werden wollte. Eine Frau von den Philippinen, die hier als Pflegekraft war und ihre Familie in der Heimat finanziell unterstützte. Ein Beduine, der in Sderot erschossen wurde, als er zwei kleine Mädchen beschützte – die Kinder überlebten.
Es sind oft die Familien und Freunde von den getöteten Menschen, die mit den Geschichten zu uns kommen. Wir recherchieren aber auch in sozialen Medien oder scannen die Fernsehinterviews mit den Familien. Die schaue ich mir dann in voller Länge an. Das kann einen schon überwältigen, sich ein Video nach dem anderen über verzweifelte Familien anzuschauen. Es sind so viele Tote, dass ich das Gefühl habe, immer hinten dran zu sein, nie genug zu schreiben, obwohl ich kaum noch etwas anderes mache.
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Wir alle zusammen haben mit den mehr als 90 Nachrufen nicht einmal 10 Prozent derjenigen abgedeckt, die am 7. Oktober ums Leben gekommen sind und es werden immer noch weitere identifiziert. Wir wollen aber über jeden einzelnen von ihnen einen Nachruf schreiben. Ich weiß nicht, ob wir das schaffen, denn über manche sind nur sehr schwer Informationen zu finden. Über Menschen, die wenige oder gar keine Angehörigen hatten oder ausländische Arbeiter, zum Beispiel aus Thailand, deren Sprache wir nicht sprechen. Aber wir arbeiten jeden Tag dafür, das möglich zu machen, wir recherchieren immer weiter. Es gibt auch Familien, die gerade in Ruhe für sich trauern wollen, ohne Öffentlichkeit, das respektieren wir natürlich auch.
Ich musste noch über niemanden einen Nachruf schreiben, der mir selbst nahestand, niemand aus meinem engen Umfeld wurde bei dem Terrorangriff getötet. Aber über Ecken bin ich doch mit ein paar der Menschen verbunden.
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Zum Beispiel zwei junge Brüder – die Kinder des Rabbiners, bei dem ich schon ein paar Mal in der Synagoge war. Ich kenne diesen Rabbi seit mehr als 10 Jahren.
Es gibt Momente, in denen ich wie betäubt bin. Ich weine immer noch fast jeden Tag. Ich bin jemand, der schnell weint und ich glaube, das ist auch gut für mich, denn diese Dinge sind unbeschreiblich traurig. Bei der Arbeit sprechen wir viel darüber, gut für uns selbst zu sorgen in diesen Zeiten, aber das geht natürlich nicht immer. Vor allem, wenn man damit beschäftigt ist, über die Lage zu berichten. Es fühlt sich an wie ein Albtraum, aus dem ich nicht aufwachen kann.
Mir hängen die Geschichten der Menschen oft noch nach. Zum Beispiel von einem Journalisten, der am Morgen des Angriffs noch ein Video von einem der Terroristen im Paraglider aufnehmen und verschicken konnte. Er und seine Frau wurden getötet. Seine kleine Tochter wird in Gaza als Geisel gehalten. Seine beiden anderen Kinder haben sich versteckt und überlebt.
Was ich schwierig finde, ist das Aufwiegen der Anzahl der Toten. Es ist schrecklich, wie die Zivilbevölkerung gerade in Gaza leidet. Dieses gegeneinander Ausspielen der Bevölkerungen, das Kleinmachen des Leids der Hinterbliebenen auf der jeweils anderen Seite, warum wird das gerade in aller Welt getan? Ich sehe das Leid in Gaza und ich möchte, dass auch die Trauer in Israel gesehen wird.