F. Behrendt: Der Guru der Gelassenheit: Nostalgie – ein Gefühl, das jeder zulassen sollte. Weil es hilft
Vergangenen Samstag brachte "Wetten, dass..?" ein fast vergessenes Gefühl zurück: Wie eine Welle schwappte es übers Land, wärmte wie ein Frottee-Schlafanzug aus Kindertagen, sorgte für feuchte Augen und Erinnerungen. Natürlich ätzte der Twitter-Chor der Empörungsgesellschaft reflexartig los. Aber es gab auch die anderen, die ein Faible für Nostalgie haben, so wie ich.
Wenn wir früher auf einem Wort herumkauten, dann riet meine Mutter dazu, es mal im Duden nachzuschlagen. Mach ich auch heute noch, inzwischen allerdings digital. Ich wollte die Bedeutung von Nostalgie ergründen und erhielt sekundenschnell Antwort: "Vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, deren Mode, Kunst, Musik o. Ä. man wieder belebt."
Nun bin ich keiner, der über die Gegenwart lamentiert, auch wenn mir vieles an ihr missfällt. Aber ich sehe als Daueroptimist, dessen Glas immer halbvoll und nie halb leer ist, nach wie vor viel Gutes und Schönes am Wegesrand und zuweilen auch auf den Hauptstraßen des Lebens. Dennoch reise ich in Gedanken oft zurück, nicht als Flucht, eher als Wellness-Trip. Auf den ging ich auch am Fernseher, als die vertraute Intro-Melodie von "Wetten dass..?" erklang. Lange hatte ich sie nicht mehr gehört, aber sofort wieder erkannt. kurzbio Behrendt
14 Millionen Nostalgiker
Als der große herbstblonde Showmaster Gottschalk den Saal in gewohnter Manier in Beschlag nahm, waren seine ausgebreiteten Arme für mich die Einladung zu einer Umarmung. Für die Show, für ein Stück heile Welt, für die einst im Familienkreis erlebte Unterhaltung mit Salzstangen, Kinderschokolade und köstlicher Coke. Auf die Idee, am Retro-Aufguss herumzukritisieren käme ich nicht, es macht für mich keinen Sinn, denn die Show stammt aus einer anderen Zeit. Ich wollte nur das alte Erlebnis zurück und ich bekam das alte Erlebnis. Wer es nicht wollte, musste nicht einschalten. Fast 14 Millionen wollten es.
Für mich ist "Wetten dass..?" einfach nur ein Erinnerungstrip. Dabei gehöre ich beileibe nicht zur "Früher war alles besser" Fraktion. Denn ehrlich gesagt war auch früher vieles gar nicht so toll. Nur baut unser Gedächtnis gerne einen schillernden Filter ein – negative Erinnerungen werden aussortiert, positive rutschen hoch und setzen sich fest.Der Blick zurück gerät damit oft rosig und wächst sich bei vielen, gerade in der emotional aufgeladenen Vorweihnachtszeit, zu einer glöckchenklingenden Sehnsucht aus: Nostalgie eben. STERN PAID Frozen 16.10
Darüber kann man den Kopf schütteln und die Augen verdrehen, aber diese schokoladensüße Gefühlslage ist trotz leichter Vergangenheitsverklärung wichtig für die Gleichgewichtswaage der Seele. Studien der Universitäten von Southampton und Missouri haben herausgefunden, dass nostalgische Feelings sogar Wege aus emotionalen Krisen aufzeigen können. Gedanken an Happiness-Moments oder nachhaltig prägende Begegnungen sind kostenlose Stimmungsaufheller, Angstvertreiber und versteckte Kraftquellen.
Zentralheizung für die Seele
Die Wissenschaftler haben durch Experimente nachgewiesen, dass sich die Testpersonen bei Beschäftigung mit positiv triggernden Erinnerungsankern deutlich entspannter verhielten und viel positiver in die Zukunft blickten, ganz egal, wie die sonstigen Rahmenbedingungen in Alltag und Welt auch waren. Nostalgie wirkt wie der Download eines Korrekturprogramms, wenn es mal wieder im seelischen Getriebe hakt. tv-nostalgie 16.02
Die sentimental journey sorgt aber nicht nur für eine Neujustierung des aktuellen Gefühlshaushalts, sie wärmt sogar körperlich. Glaubt ihr nicht? Ist aber so: ForscherInnen der chinesischen Sun-Yatsen-Universität haben herausgefunden, dass es Probanden, die im Kopf in nostalgische Erinnerungen eintauchten, sofort wärmer zumute wurde. Ihre Toleranz gegenüber Kälte stieg, sie schätzten die Raumtemperatur bis zu vier Grad höher ein, als sie es in Wirklichkeit war. Verrückt, aber real. Nostalgie wirkt am Ende wie eine Art Zentralheizung für die Seele.
Die Industrie macht übrigens schon lange richtig gute Geschäfte mit der Nostalgie. Der Trick ist schließlich auch zu verlockend: Die cleveren Marketingstrategen packen KonsumentInnen genau da, wo sie fast komplett wehrlos sind – bei ihrer Sentimentalität. Wer von einem Schuss Wehmut ins nostalgisch schlagende Herz getroffen wird, zahlt gerne, weil er sich ein Stück ewige Jugend zurückkauft. "Gemeinsame Erinnerungen sind der Klebstoff, der die fragile Gemeinschaft zusammenhält", schreibt der Autor Daniel Rettig in seinem lesenswerten Buch "Die guten alten Zeiten – Warum Nostalgie uns glücklich macht". wetten-dass-kommentar 11.50
Damit trifft er das überraschende Phänomen des jüngsten Erfolges des ZDF-Show-Klassikers rund um kindische Wetten und seicht auf einer großen Couch palavernde Promis sehr gut. Millionen waren gemeinsam in einer Zeitkapsel unterwegs und entflohen mal für dreieinhalb Stunden dem Alltag mit seinen meist unerfreulichen News rund um Coronazahlen, Klimakrise und Streitigkeiten in aller Welt. Aber so erfolgreich das "Wetten dass..?" Revival auch war, als monatliche Flashback-Droge taugt sie nicht. Einmal im Jahr in der Vorweihnachtszeit, wenn wir ohnehin mit einer anderen Milde gesegnet sind und empfänglicher für nostalgisches Licht sind, dagegen schon. Schaun wir mal, ob es so kommt.
Entzugserscheinungen werde ich bis dahin keine haben. Wenn ich einen Schuss Nostalgie brauche, gehe ich zu Hause einfach die Treppe runter in den Keller. Dort habe ich in einem Raum alles zusammengetragen, was mir in meiner Kinder- und Jugendzeit etwas bedeutet hat. Ein kurzer Blick in den Raum macht mich glücklich, deshalb schaue ich täglich mindestens einmal rein.