Das Schach und das Leben
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Gemalt von David Tobey
Sie standen sich gegenüber. Der Mensch mit dem Vorteil des ersten Zuges von Weiss; das Leben mit jener Ruhe zu wissen, dass alle Zeit der Welt zur Verfügung steht für Schwarz.
Der Anbruch des Tages gibt das Zeichen, die Schlacht zu beginnen – mit einem unendlichen Himmel als Zeuge.
Die Partie fängt an.
Die Soldaten auf beiden Seiten beeilen sich, in Stellung zu gehen, Körper an Körper.
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gemalt von Elke Rehder.de
Sie beobachten sich gegenseitig. Die ersten Linien sind mit einer alles verzehrenden Geschwindigkeit besetzt.
Nun ist es an der Zeit, die schweren Geschosse aufzufahren.
Die Kavallarie hört den Ruf, verlässt ihre sichere Stellung und eilt in den Kampf. Jeder Springer besetzt schnell die strategischen Felder. Die Nachhut ist gedeckt. Die Soldaten schreiten sicher nach vorn. Es gibt keine Furcht in ihren Augen.
Es erklingen die Stimmen der Könige, die Befehle erteilen.
Die Offiziere (Läufer) treten auf den Plan und besetzen die Diagonalen.
Die Spannung steigt.
Die Stille ergiesst sich wie ein dicke Flüssigkeit auf das Brett.
Ein falscher Zug kann das Leben des Königs kosten.
Es ist die Zeit zum Nachdenken gekommen.
Die Augen des weissen Königs blitzen; sein Blick hat einen triumphierenden Glanz.
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Gemalt von Elke Rehder.de
Er gibt seinen Männern entschlossen die Befehle; es gibt keinen Zweifel.
Die Spannung steigt ins Unermessliche und die Soldaten treten in Aktion.
Das Schachbrett verschwindet; jetzt interessiert nur noch ein Feld.
Der weisse Soldat bohrt die Spitze seiner Lanze tief in die Brust des schwarzen Soldaten.
Dunkle Tropfen ergiessen sich wie Gottestränen über das Brett.
Der weisse Soldat, noch mit dem frischen Blut des Gegners an seinen Händen, spürt die Kälte des Schwertes des schwarzen Ritters in seinem Hals.
Sein lebloser Kopf liegt vor den Füssen seines Henkers; somit wird der Anfang einer Welle des Todes und der Rache angekündigt.
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Der weisse König stimmt mit Genugtuung zu.
Er denkt, dass er seinem Gegner eine Falle gestellt hat, aber das Leben ist eine erfahrene Spielerin.
Ein Lächeln huscht über das Gesicht des schwarzen Königs.
Ein goldener Pfeil durchbohrt das Schachbrett, bis er in das Herz des weissen Offiziers eindringt. Der Blick des Läufers bleibt gleichmütig, auch angesichts des Todes.
Der schwarze König stimmt zu.
Die leblosen Körper häufen sich zu Berge.
Es gibt leider keine Zeit zu grossem Bedauern.
Der weisse König versteckt sich schnell hinter seiner königlichen Wache.
Der schwarze König befiehlt nun auch die Rochade.
Die Königinnen (Damen) schauen sich in die Augen.
Es ist die Stunde der Wahrheit; alles aufs Ganze!
Die weisse Dame gleitet mit einer vollkommmenen Eleganz in Richtung des Schlachtfeldes.
Der schwarze König beobachtet sie von seinem sicheren Hort aus, kaum einige Schritte entfernt.
Die schwarze Dame bewegt sich mit absoluter Genauigkeit, in dem sie die Flanke angreift, die vorher von der weissen Dame geschützt war.
Der weisse Läufer kommt dem Angriff zur Hilfe, wobei er mit seinem gespitzten Pfeil in die Richtung der schwarzen Festung zielt. Der weisse Soldat wartet resigniert auf sein Sterben;
man sieht keine Furcht in seinen Augen. Die schwarze Dame stellt sich vor ihn.
Der Atem des Soldaten kommt zum Stillstand. Die Dame nähert sich ihm und streift gefühlsam seine Lippen.
Wo vorher der Kopf des Soldaten ruhte, bleibt nur noch ein schneeweisser Schädel.
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Gemalt von Robert Sgarra
Nun bewegt sich der weisse Berg, indem er sich mit der Kraft eines Sturmes gegen den schwarzen Bogenschützen wirft. Der Schütze fällt sofort um, weil er sich gegen solche entfesselten Kräfte nicht halten kann.
Der schwarze Soldat rächt sich ohne zu Zögern wegen des Ablebens seines Kamaraden.
Auf keiner Seite gibt es ein Mitleid; es werden nur Befehle ausgeführt.
Das ist die Wahl, die Du hast, um das Leben oder Sterben
zu bestimmen.
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Die schwarze Dame hat sich verstrickt, wird gefangen und
niedergestreckt.
Die weisse Dame hat im Kampf überlebt.
Somit ergibt sich bei einer neuen Abwägung der Stellung ein grosser Vorteil für Weiss.
Die Dame hebt den Kopf und schreitet stolz auf den schwarzen König zu: “Schach!”, wiederholt sie.
Und immer und immer wieder, bis der schwarze König keinen Fluchtweg mehr hat: “Schachmatt!” ruft sie aus und streichelt mehr als zufrieden ihre eigenen Worte.
Der schwarze König entnimmt seiner Tasche eine kleine Kristallflasche und trinkt bis zum letzten Tropfen die darin enthaltene bernsteinfarbenene Flüssigkeit aus, schliesst die Augen und fällt wie vom Blitz getroffen um.
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“Der Fall” gemalt von Damijan Fric
Die weisse Dame hebt die Königskrone vom Boden auf und zeigt sie in der Runde.
Der weisse König lächelt zum letzten Mal.
Das Spiel ist zu Ende.
Der Mensch lacht; er hat überlebt. Morgen wird ein anderer Tag sein und eine andere Schlacht ist zu schlagen. Und so wird er weitermachen, bis der letzte Teil des Seins so erschöpft ist, dass er keine Figur mehr auf dem Schachbrett halten kann; oder seines Körpers.
Dann ist es nicht mehr notwendig, dass er irgendeine Flüssigkeit trinkt; das Leben ist barmherzig und sendet den Tod auf die Suche nach seinem Schüler.
Das Leben ist geduldig; es weiss, dass es früher oder später gewinnt.
Das Schach und das Leben, unendliche Schlachten für den Menschen.
Das Schach, eine Miniaturausgabe des Lebens……
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Der Mensch spielt eine Partie Schach mit dem Tod
(Das siebente Siegel 1957) – Regisseur Ingmar Bergmann
Quelle: Javier Vargas Caro
Sitges (Barcelona), im Oktober 2014