Jörg Müller: Priester über Teufelsaustreibungen: "Die meisten brauchen keinen Exorzismus, sondern eine Therapie"
Jörg Müller ist katholischer Priester und einer von wenigen Geistlichen in Deutschland, die sich dazu bekennen, Exorzismen durchzuführen. Doch was hat die Dämonenaustreibung, die man aus Horrorfilmen kennt, mit der Realität zu tun?
Anfang dieser Woche hat die Weltvereinigung der Exorzisten (AIE) einen neuen Präsidenten gewählt (der stern berichtete). Künftig führt der 53-jährige tschechische Priester Karel Orlita den Verband an, in dem sich knapp 900 Exorzisten und Hilfsexorzisten organisieren. Aber was genau machen diese Teufelsaustreiber in einer immer aufgeklärteren Welt?
Jörg Müller ist Psychotherapeut, Religionswissenschaftler und Priester in der Gemeinde Freising bei München – und er ist einer von wenigen Geistlichen in Deutschland, die sich öffentlich dazu bekennen, Exorzismen durchzuführen. Im Gespräch mit dem stern erklärt er, was von dem Klischee der Teufelsaustreibung, das man aus Horrorfilmen kennt, zutrifft, warum die meisten Menschen medizinische und keine geistliche Hilfe benötigen, und warum wir Deutschen mit der Mystik auf Kriegsfuß stehen.
Herr Müller, die meisten Menschen verbinden mit dem Begriff Exorzismus das, was sie in Horrorfilmen sehen: verkrampfte, ans Bett gefesselte Menschen, einen Priester mit erhobenem Kreuz, der auf den Besessenen einredet, ihn anschreit – ein Kampf des Geistlichen gegen einen Dämon. Was davon trifft tatsächlich zu?
Das ist eine überspitzte, theatralische Darstellung, die so nicht vorkommt. Ein Exorzismus ist ein ritualisiertes Befreiungsgebet, in dem man versucht, vermutete dämonische Wesen auszutreiben. Oftmals wird es in lateinischer Sprache gesprochen, meist aber komplett still. Exorzismen sind teilweise sehr langweilig und mühsam.
Wie sieht ein Exorzismus in Wahrheit aus?
Der vermutet Besessene wird mit Weihwasser besprengt, ihm wird ein Kreuz vorgehalten. Dann wird gebetet und der Befehl erteilt: "Verschwinde, im Namen Gottes!" Das kann bis zu einer halben Stunden dauern. Doch noch bevor das alles passiert, wird erst einmal geklärt, ob nicht etwa eine psychische Erkrankung vorliegt. Erst wenn alle medizinischen Untersuchungen ergebnislos bleiben, es aber Symptome gibt, die auf eine Besessenheit schließen lassen, kommt ein Exorzismus überhaupt infrage. Dann überprüfe ich, ob an der Vorstellung der Besessenheit überhaupt etwas dran ist. Das passiert aber so still und heimlich, dass der Patient es gar nicht bemerkt. Exorzismus Verband Präsident 7.18
Wie genau gehen Sie vor?
Ich bete still, der Patient weiß davon nichts. Wenn er besessen ist, rührt sich jetzt etwas. Dann behaupte ich, ich bete, tue es aber nicht und warte ab, was geschieht. Ich behaupte, ich bespritze den Patienten mit Weihwasser, es ist aber kein Weihwasser. Ich teste also, ob der Patient sich selbst und uns belügt oder nicht. Zeigt er Reaktionen, wenn ich bluffe, braucht es keinen Exorzismus – und das ist in den meisten Fällen so. Die meisten Leute brauchen keinen Exorzismus, sondern eine Therapie.
"Ein dämonisches Wesen zu erkennen ist schwierig, weil es keine Beweise gibt"
Woran erkennen Sie dann eine Besessenheit?
Bei einer Besessenheit geschieht immer etwas, wenn ich bete, den Patienten segne oder ihn mit Weihwasser besprenge. Die Patienten schreien, fluchen, verspotten mich. Teilweise sprechen sie in Sprachen, die sie nie gelernt haben. Aber selbst wenn all das zutrifft, müssen wir vorsichtig sein. Es ist kein Beweis, dass tatsächlich ein dämonisches Wesen in den Patienten gefahren ist.
Was sind überhaupt Dämonen?
Es gibt heute eine Menge Priester, die nicht mehr daran glauben, dass der Dämon, der Teufel, ein personelles Wesen ist. Sie glauben eher an eine Art Dynamik der Zerstörung in der Seele. Mir ist es vollkommen egal, ob der Dämon nun eine personelles Wesen oder eine solche Dynamik ist. Für mich steht die Frage im Vordergrund, wie man Menschen helfen kann, die Symptome zeigen, die niemand einordnen kann.
Sie sind ausgebildeter Psychotherapeut. Widerspricht es nicht jeglicher Wissenschaft, wenn es für so etwas wie eine Besessenheit oder Dämonen keine Beweise gibt?
Ich kann auch Gott nicht beweisen, aber ich glaube an ihn. Im Fall einer möglichen Besessenheit glaube ich, dass es nach allen medizinischen Untersuchungen eine Restchance gibt, dass eine dämonische Kraft wohl da sein dürfte. Und dann bete ich. Wenn dieses Gebet dann tatsächlich befreit, ist es für mich Beweis genug. Wenn mehrere Gebete nichts bringen, dürfte der Grund der Symptome psychisch sein.
In den Menschen sollen dämonische Wesen wohnen?
Wir Geistlichen vermuten, dass es in ganz seltenen Fällen möglicherweise dämonische Wesen im Inneren eines Menschen gibt, die ihn steuern. Das zu erkennen ist aber sehr schwierig, weil es keine Beweise gibt. Man kann nur auf Grund der Symptomatik und der medizinisch abgegrenzten Diagnostik davon ausgehen.
Das heißt, sie behandeln Menschen auf Grundlage Ihres Glaubens?
Nein, natürlich nicht. Oftmals schicken Ärzte Menschen zu uns, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Das heißt, die Patienten sind zuvor schon gründlich medizinisch untersucht worden. Anders sieht es bei Leuten aus, die sich ohne Arztbesuch melden. Kürzlich kam eine Frau zu mir, die behauptete, besessen zu sein. Mit ein paar kurzen Fragen habe ich aber festgestellt: Sie ist nicht besessen, sondern traumatisiert – sie wurde missbraucht. Sie berichtete von Schatten, die sie sieht, davon, dass sie sich nachts sogar berührt fühlt. Das ist der frühere Missetäter, kein Dämon.
Missbrauch ist ein typischerweise Grund für spätere Symptome, die einer Besessenheit zugeordnet werden. Heute wissen wir, dass es sich hierbei oft um eine sogenannte Dissoziation handelt. Ängste spalten sich von der Psyche ab. Patienten sehen Fratzen oder müssen fluchen – alles Symptome, die man noch vor 30 Jahren einem Dämon zugeschrieben hat. Aber diese Frau ist nicht besessen, sie braucht eine Traumatherapie.
"Die Kirche versagt vollkommen"
Sind Exorzismen überhaupt nötig, wenn die meisten Fälle auf psychische Erkrankungen zurückgeführt werden können?
Laut des Freiburger Institutes für Paranormales dürfte eine kleine Fallzahl in den Bereich der Dämonologie fallen. Da wäre der Dienst der Kirche nützlich. Aber sie versagt vollkommen. Wir brauchen eine Anlaufstelle für Menschen, die aus dem Raster fallen. Aber in Deutschland gibt es keinen offiziell beauftragten Exorzisten. Durch eine Einschätzung eines ausgebildeten Priesters könnte ihnen schnell geholfen werden – in den meisten Fällen medizinisch.
Was genau ist eine Besessenheit?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Vor einiger Zeit kam ein IT-Techniker aus der Schweiz zu mir mit Symptomen, die man wirklich einer Besessenheit zuschreiben konnte. Er hat in Sprachen gesprochen, die er nie gelernt hatte. Sein Bett hat nachts ohne erkennbaren Grund gewackelt. Bei religiösen Gegenständen war er kontrovers, fluchend, als ob er mit Feuer in Berührung käme. Die Tests, die ich durchgeführt habe, hat er alle bestanden. Die medizinischen Untersuchungen hatten keinen Befund. Das heißt: Da war etwas.
Dämonen, Wackelnde Betten – können Sie verstehen, dass viele Menschen denken: Das ist doch alles Humbug?
Das ist alles in der Tat schwer zu belegen. Wir Deutschen sind immer so empirisch und so aufgeklärt, wir haben keinen Bezug zur Mystik, damit stehen wir auf Kriegsfuß. Wir sind einfach zu stolz und hochmütig. Wir meinen immer alles besser zu wissen. Teilweise werden Gläubige hier ja sogar ausgelacht. Was ist das für eine intolerante Reaktion, über Religion zu lachen? Das ist eine Katastrophe.
Gehen wir mal davon aus, dass es so etwas wie eine Besessenheit tatsächlich gibt: Welche Menschen sind besonders "gefährdet"?
Allgemein trifft es eher diese überangepassten Menschen, deren Gottesbild ein strafendes Bild ist. Menschen, die ihre Bedürfnisse immer weiter unterdrücken, die es nie gelernt haben "nein" zu sagen, die immer pflegeleicht und brav waren. Genau bei diesen Menschen entsteht in der Psyche ein Loch, in das die Dämonen stoßen können.
Wozu soll ein Dämon in einen Menschen fahren?
Ein Dämon will zerstören. Den Menschen und sein Umfeld. Oftmals mit der List, einen Menschen besonders fromm werden zu lassen. So sehr, dass es ihn mürbe macht.
Besonders dramatisch wirken Exorzismen in US-amerikanischen Freikirchen, die sich als sehr fromm präsentieren. Mitschnitte zeigen hysterische Menschenmassen, einige Teilnehmer solcher Veranstaltungen kollabieren oder erleiden Krampfanfälle, während ein Priester voller Inbrunst Gebet in die Menge schreit. Sind das überhaupt echte Exorzismen?
Solche Szenen sind schrecklich. Es kann sein, dass einige diese Priester einen Exorzismus sprechen. Nur ist eine Diagnose bei den Menschen, die zuhören, ja völlig unklar. Die heftigen Reaktionen dieser Menschen sind keine Beweise für Besessenheit, sie könnten ebenso psychotisch sein. So würde man niemals exorzieren – und in der Öffentlichkeit schon gar nicht.