EU-Flüchtlingspolitik: Verwaltungsgerichtshof erlaubt nächtliches Protestcamp in Heidelberg
Heidelberg/Mannheim. (dpa) Das Protestzeltlager auf dem Heidelberger Marktplatz für die Evakuierung von Flüchtlingscamps darf trotz der Ausgangsbeschränkungen nun doch auch nachts stattfinden. Die Stadt hatte diese Demonstration nur tagsüber erlaubt. Der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim gab nach Angaben vom Dienstag einer Beschwerde des Veranstalters zum Teil statt (Az.: 1 S 138/21).
Der Infektionsschutz rechtfertige zwar Auflagen für Versammlungen. Die Stadt hat den Richtern zufolge aber nicht darlegen können, dass die Teilnehmer die Abstands- und Hygieneregeln nachts nicht einhalten würden. Der Beschluss ist nicht anfechtbar. Jedoch darf in jedem Zelt nur ein Mensch schlafen. Eine Beschwerde gegen diese Auflage blieb erfolglos.
Die Demonstranten fordern den Angaben nach die Evakuierung von Flüchtlingslagern an den EU-Außengrenzen. In den Zelten wollen die Protestierenden noch bis Samstag übernachten.
Aufgrund der Corona-Pandemie gilt im Südwesten seit Wochen eine nächtliche Ausgangsbeschränkung zwischen 20 und 5 Uhr. Die Regelung soll die Zahl der Kontakte verringern und so helfen, Ansteckungen mit dem Erreger Sars-CoV-2 zu vermeiden.
Update: Dienstag, 19. Januar 2021, 18.30 Uhr
Verwaltungsgericht schränkt Protestcamp in Heidelberg ein
Abends müssen die Aktivisten ihre Zelte am Marktplatz wieder abbrechen. Die Protestierenden fordern eine Evakuierung der Geflüchteten an den EU-Außengrenzen.
Von Ruth Lang Fuentes
Heidelberg. Trotz Minusgraden bauten am Samstagmittag Aktivistinnen und Aktivisten vor dem Rathaus ihre Zelte auf. Sie protestieren gegen die dramatische Lage von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen, im bosnischen Lipa oder auf Lesbos. "Keine Zeltstädte in Europa!" und "Wir haben Platz!" steht auf ihren Plakaten. Die rund 15 jungen Menschen, die keiner Organisation angehören, haben sich aufgrund der Corona-Pandemie für das Konzept eines Protestcamps entschieden – auch, um darauf aufmerksam zu machen, dass viele Geflüchtete derzeit gezwungen sind, bei Minusgraden in dürftigen Zelten zu leben.
Die jungen Menschen wollten eigentlich auch in Heidelberg vor dem Rathaus übernachten. Die Stadt als Versammlungsbehörde hat dies jedoch aus Infektionsschutzgründen verboten und die Veranstaltung täglich nur bis 19 Uhr erlaubt. Ein Eilantrag der Gruppe an das Verwaltungsgericht Karlsruhe wurde am Freitagabend abgelehnt: "Die zeitliche Beschränkung der Dauermahnwache sei eine geeignete, erforderliche und auch angemessene Maßnahme des Infektionsschutzes, weil gerade in den Abendstunden, wenn aufgrund der aktuellen Ausgangsbeschränkungen keine Passanten mehr zu erwarten seien, es vermehrt zu Risikokontakten kommen könne", argumentieren die Richter.
Geradezu zynisch finden das jedoch die Aktivisten: "Während an den EU-Außengrenzen tausende von Menschen gezwungen werden, zusammengepfercht unter schlimmsten Bedingungen in Zelten zu leben, manchmal über Jahre hinweg, wird uns privilegierten Menschen in Heidelberg verboten, eine Woche im Freien zu übernachten." Deshalb will die Gruppe erneut Beschwerde einlegen, sodass sich auch der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim mit der Frage befassen wird.
Doch zunächst wird nur tagsüber vor dem Rathaus protestiert. Die Stadt selbst ist dabei jedoch gar nicht Ziel der Aktion: "Heidelberg ist Gründungsmitglied im ,Bündnis Städte sichere Häfen’ und hat viele Geflüchtete freiwillig aufgenommen. Das finden wir sehr gut. Der Protest richtet sich an die Bundesrepublik und die EU", sagt Pressebeauftragter Simba. Die Zustände in den Lagern an den EU-Außengrenzen, die Überbelegung der Zelte durch Menschen mit ohnehin schon geschwächten Immunsystemen seien erst recht unter der Corona-Pandemie nicht mehr hinnehmbar, so Simba. Die Aktivistinnen und Aktivisten fordern deswegen die sofortige Evakuierung der Menschen dort.
"Die Menschen in den Camps leben unter menschenverachtenden Verhältnissen", berichtet Aktivistin Theresa bei der Eröffnungsrede. In dem neu errichteten Lager Kara Tepe auf der Insel Lesbos mangele es an Essen, Toiletten, Duschen und warmem Wasser. Bei Regen werde das Camp von Fäkalien überflutet. Regelmäßig müssten die Ärzte vor Ort Kinder verarzten, die von Ratten gebissen würden. Suizidversuche seien an der Tagesordnung. "Hier werden Menschenrechte nicht nur verletzt, sie werden mit Füßen getreten", so die Aktivistin.
Statt Fluchtursachen systematisch zu bekämpfen, arbeite die EU mit Ländern wie Libyen oder der Türkei zusammen oder schicke Frontex, "um gewaltvoll zu verhindern, dass die Geflüchteten die EU erreichen", sagt Theresa. Die widrigen Verhältnisse in den Camps seien Absicht und sollten der Abschreckung dienen.
"Die europäische Lösung, auf die wir warten, wird nicht kommen. Deutschland muss Initiative ergreifen", fordert auch Annika. Die Jurastudentin war 2019 mehrere Monate auf Lesbos im mittlerweile abgebrannten Camp Moria als Rechtsberaterin für Geflüchtete. "Asyl zu beantragen, ist ein Menschenrecht. Doch die Behandlung der Geflüchteten soll als Abschreckung dienen." Die durchschnittliche Wartezeit auf eine Asylanhörung betrage acht Monate, in der die Geflüchteten nichts machen könnten außer Warten. "Die Verzweiflung der Menschen vor Ort ist sehr stark zu spüren. Wie mit ihnen umgegangen wird, hat mich stark erschüttert in meinem Glauben an die EU und unser Wertesystem", erzählt sie.
Das Protestcamp soll bis Samstag täglich von 6 bis 19 Uhr vor dem Rathaus stattfinden. Auf dem Programm stehen Berichte von Menschen, die in Geflüchtetenlagern waren und Redebeiträge von Organisationen wie Seebrücke, Amnesty International oder "I Support The Girls". Bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes bauen die Aktivistinnen und Aktivisten die Zelte abends wieder ab. Die von der Stadt genehmigte Option einer Nachtwache von zwei Personen schlugen sie aus. Ein ähnliches Protestcamp in Landau im vergangenen Jahr sei von Unbekannten attackiert worden, die Gefahr sei zu groß.
Update: Sonntag, 17. Januar 2021, 15.30 Uhr