Aufregung um Wehenmittel: Der Glaubenskrieg um Cytotec
Von Micha Hörnle
Heidelberg. An dem Medikament Cytotec scheiden sich die Geister: In aktuellen Berichten wird es für schwere Komplikationen bei der Geburt verantwortlich gemacht. Als Reaktion darauf verteidigen Gynäkologen Cytotec – oder wenigstens seinen Wirkstoff.
> Die Vorwürfe: In der letzten Woche berichteten fast zeitgleich die "Süddeutsche Zeitung" und "Report München" (Bayerischer Rundfunk) über die schweren Folgen von Cytotec, das angeblich in jeder zweiten deutschen Klinik verabreicht wird, um die Wehen einzuleiten. Dabei wird das Schicksal zweier Frauen dargestellt, deren Namen abgeändert wurden, weil die von ihnen angestrengten Gerichtsverfahren noch in der Schwebe sind.
In beiden Fällen bekamen die Babys bei der Geburt nicht genügend Sauerstoff: Das eine Kind starb wenige Tage später, das andere ist schwer behindert. Beide Frauen berichten von sehr großen Schmerzen während der Wehen; sie wurden auch nicht vorab über eventuelle Risiken aufgeklärt.
Eine Hebamme habe ihr die Gabe von Cytotec mit den Worten angekündigt, das sei "das Redbull der Wehen". Die Mutter des toten Kindes sagt heute: "Ich hätte mich niemals für Cytotec entschieden, wenn ich von den Risiken gewusst hätte. Ich streite vor Gericht, weil ich nicht über die Nebenwirkungen aufgeklärt wurde und schon gar nicht über die Komplikationskaskade, die folgen kann." Insgesamt, so die beiden Medien, seien in Deutschland eine Mutter und drei Babys "im Zusammenhang mit der Gabe von Cytotec gestorben. Zahlreiche Kinder erlitten Hirnschäden aufgrund von Sauerstoffmangel".
Vor allem wird der Vorwurf erhoben, dass Cytotec eigentlich nicht für die Einleitung von Wehen zugelassen worden sei: Es wurde ja zunächst als Magenschutzmittel entwickelt. Die Fachbezeichnung dafür ist "Off-Label-Use"; und eigentlich müssten Ärzte die Patienten darüber aufklären, dass sie gerade ein Medikament verabreichen, das für diese Therapie keine Zulassung hat.
Dass Cytotec dennoch gern verabreicht wird, liege daran, dass es sehr günstig sei – eine Tablette koste nur wenige Cent –, die Alternativen, die es durchaus gäbe, seien deutlich teurer. Außerdem müssen dadurch weniger Kaiserschnitte gemacht werden. Zudem würden genaue Studien, wie Cytotec tatsächlich bei der Geburtseinleitung wirkt, fehlen. Die Ärzte stützen sich dabei auf Erfahrungswerte.
> Die Reaktion: Einen Tag, nachdem die "Süddeutsche" in großer Aufmachung über die gefährlichen Folgen von Cytotec berichtet hatte, meldeten sich gleich fünf medizinische Gesellschaften zu Wort – die Deutsche Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie (DGGG), die Arbeitsgemeinschaft für Geburtshilfe und Pränatalmedizin in der DGGG, die Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin, die Deutsche Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin sowie die Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Ärztinnen und Ärzte in der Geburtshilfe und Frauenheilkunde. In ihrer Stellungnahme in der Ärztezeitung nennen sie die bisherige Berichterstattung "einseitig". Denn in der Geburtshilfe werde nicht Cytotec an sich verwandt, sondern der Wirkstoff Misoprostol – und zwar in "geringerer Dosierung" als in Cytotec.
Im Gegensatz zu den Vorwürfen sei die Wirkung von Misoprostol in Studien sehr gut belegt. Und so heißt es denn auch: "Die Evidenz ist unstrittig: Der Wirkstoff Misoprostol ist das effektivste Medikament zur Geburtseinleitung und führt vor allem bei der oralen Anwendung zu weniger Kaiserschnitten als andere Medikamente (Dinoproston, Oxytocin)." Zugleich erklären die fünf Fachgesellschaften, dass es sich bei den geschilderten schweren Geburtskomplikationen um Einzelfälle handelte – gerade bei absehbar schweren Fällen (wie bei einem möglichen Gebärmutterriss) oder bei schon einsetzenden Wehen werde gerade niemals Misoprostol gegeben.
Es sei zwar richtig, das Cytotec nicht zur Geburtseinleitung zugelassen worden sei und darf daher nur im "Off-Label-Use" hierfür verwendet werden dürfe: "Da Zulassungsstudien fast aller Medikamente Kinder und Schwangere ausschließen, werden in der Geburtshilfe und Kinderheilkunde überwiegend Antibiotika, Bluthochdruckmittel und Medikamente zur kindlichen Lungenreifung ,off-label’ angewendet." Zudem sei "Misoprostol in vielen Ländern zur Geburtseinleitung zugelassen" – was "Report München" und "Süddeutsche" verschwiegen hätten. Die Mittel hießen dann auch nicht Cytotec, sondern Vagiprost, Misodel oder Angusta – letzteres soll auch Ende des Jahres in Deutschland zugelassen werden.
Alles in allem habe die Berichterstattung "zu einer unnötigen und gefährlichen Verunsicherung der Schwangeren und der in die Betreuung der Schwangeren eingebundenen Fachkräfte" geführt.
> Fazit: Der Streit um Cytotec trägt Züge eines Glaubenskampfes. Gerade Hebammen lehnen den "Off-Label-Use" kategorisch ab. Möglicherweise trifft Wolfgang Lütje, Chefarzt des Geburtszentrums am Evangelischen Amalie-Sieveking-Krankenhaus in Hamburg, den Kern. "Misoprostol ist sicher, wenn es richtig angewendet wird. Die Problematik ist nicht eine der Substanz, sondern eine der Anwendung", zitiert ihn das Ärzteblatt. Oder, so formuliert es prägnant Holger Kaufman, Chefarzt der Abteilung Gynäkologie und Geburtshilfe am Heidelberger St. Josefskrankenhaus: "Schon die alten Griechen wussten: Die Dosis macht das Gift."