Sinsheim: Heiße Diskussion um die "ausgestorbene" Innenstadt
Von Tim Kegel
Sinsheim. "Wie ausgestorben" lautete der Titel eines Artikels in der RNZ am vergangenen Freitag: Eine Recherche unter Einzelhändlern in Sinsheim, in deren Verlauf sich der Eindruck eines schlechten Weihnachtsgeschäfts genauso bestätigte wie eine Innenstadt, die im Vergleich zu den Vorjahren deutlich weniger bevölkert wirkte. Zahlreiche Reaktionen auf den Beitrag gab es in sozialen Netzwerken, auf RNZ-Online und in Zuschriften. Auch Kaufmann Manfred Hütter, Besitzer des Marktplatzcenters, meldete sich zu Wort. Die lebhafte Diskussion mit vielen Anregungen zeigt: Der Standort Sinsheim beschäftigt die Menschen. Der Wunsch, vor Ort einzukaufen, ist da. Zahlreiche Kunden sind mit Sinsheim recht zufrieden, viele bemängeln jedoch verschiedene Aspekte.
Uneinheitliche Öffnungszeiten hatte Oberbürgermeister Jörg Albrecht als Hauptproblem angeführt. In der Diskussion spielen sie eher eine untergeordnete Rolle. Allerdings erhält Facebook-Nutzerin Marion Müller für ihre Bitte um "verlässliche Öffnungszeiten" viel Zustimmung in Form von zahlreichen "Likes". Leonard Frank findet die Öffnungszeiten "chaotisch", Kerstin Diesel hat den Eindruck, "die öffnen und schließen, wann sie wollen". Helga Schneider aus Sinsheim findet die Öffnungszeiten "sehr nervig", bemängelt aber auch fehlendes Flair und bürokratische Hemmnisse. Manfred Hütter gibt zu bedenken, dass Öffnungszeiten "nicht unrentabel sein dürfen", es gebe da Erfahrungswerte.
Verkehrs- und Parkprobleme werden mit Abstand als größtes Hindernis eines Einkaufs in der Innenstadt empfunden. Das bestätigt Manfred Hütter, und nahezu jede zweite Zuschrift befasst sich damit: Manfred Barthelmess deutet an, dass sich die Situation aufgrund fehlender Parkplätze an den Baustellen der Stadthalle und des Postareals momentan verschärft habe. Lutz Eitner aus Adersbach schreibt, dass es für ihn verkehrsbedingt "nur mit einem sehr großen Zeitaufwand" möglich sei, die Kernstadt vom Bergdorf kommend zu erreichen. Baumaßnahmen wie die Sperrung des Schwimmbadwegs hätten seiner Ansicht nach besser mit dem Ausbau der A 6 abgestimmt werden müssen. Zum Einkaufen bevorzuge er Mosbach und Bad Rappenau; allerdings wird auch in der Kurstadt schon seit längerem über Leerstände und mangelnde Vielfalt geklagt. Anna Benz moniert zunehmenden Verkehr, "fehlende Parkplätze und Öffnungszeiten teilweise nur bis 18 Uhr"; ihr Fazit: "Wenn Brot kaufen drei Stunden dauert, geh’ ich tatsächlich nicht gerne in Sinsheim einkaufen." Ansonsten sei es "dort eigentlich ganz nett". Zu teure Parkplätze bemängelt Holger Lesser: "Überlegt mal, was die Verbannung des Autos aus den Innenstädten gebracht hat?" Brigitte Bechler, die "lange in Sinsheim gelebt" hat, hat immer "problemlos einen Parkplatz gefunden, im Parkhaus oder am Bahnhof."
Liegt’s am Sortiment? "Man wollte ja kein Outlet in Sinsheim", sagt Nadine Groß auf Facebook. Sie vermisse "Markenshops". Helga Schneider fehlt es an "Läden für junge Leute". Horst Müller sagt auf RNZ-Online: "Solange die Innenstadt nichts Besonderes bietet, ist sie in ein paar Jahren tot", schließlich könne man "bequem vom Sofa alles kaufen" und in Einkaufszentren in den Großstädten shoppen. Ein starkes Dutzend Zuschriften nimmt Anstoß an immer mehr Handy-, Hörgeräte- und Optikläden, an Dönerbuden, Wettbüros, Nagelstudios und Friseuren; von letzteren gibt es 20 in der Kernstadt. Peter Kropfreiter vermisst einen Lebensmittelladen im Innenstadtbereich.
Täuscht der Eindruck? Das sagt nicht nur Manfred Hütter. Auch Karl Schramm bricht eine Lanze für den Einzelhandel: Bis auf "wenige speziellere Dinge" bekomme man in Sinsheim alles. Auch Helga Schneider und Facebook-Nutzer Bernd Hoffman kaufen mehr oder weniger regelmäßig in Sinsheim ein. Manfred Hütter nennt das Sortiment "für eine Stadt dieser Größe fantastisch". Geboten würden Kleidung und Kurzwaren in sämtlichen Ziel- und Preisgruppen, Lederwaren, Motorradbekleidung, Parfums und Kosmetik, Uhren und Schmuck, Literatur, Papierwaren, Geschenkartikel, Blumen und Pflanzen, ja sogar Lebensmittel; "alles das sogar mehrfach". "Zugpferde", wie "H&M", "C&A, "DM" oder "Müller" in den Hütter-Immobilien, aber auch sein eigenes Marktplatzcenter, hätten "ein durchschnittliches bis gutes" Weihnachtsgeschäft hinter sich; dennoch nennt Hütter die steigende Online-Konkurrenz "dramatisch" und "ökonomischen Irrsinn". Dass Kunden in Heidelberg, Mannheim, Frankfurt einkaufen, ist Hütter lieber: "Dann sehen sie", sagt er augenzwinkernd, "wie angenehm es doch bei uns ist."
Das Stadtbild wurde öfter angesprochen; manche Ecke, manche Passage und manches Privathaus wirke dreckig und ohne Einkaufsflair. "Über 40 Jahre hat man Sinsheims Historie zerstört", schreibt Martin Dünkel aus Heidelberg: "Erhaltung und Restaurierung war immer zu teuer." OB Jörg Albrecht sagte beim Neujahrsempfang der Stadt Sinsheim, dass die Gestaltungs- und Sondernutzungssatzung in der Innenstadt, von der im Moment "kein Mensch mehr" spreche, zum aufgeräumten Stadtbild beigetragen hätte. Ein Parkleitsystem und eine Beschilderungskonzeption kämen in diesem Jahr hinzu. Kundin Helga Benz sieht auch die Kehrseite: Aufsteller an Ladentüren, die eine Einkaufsstraße "lebendig" machten, müssten "teuer bezahlt werden". Stadtbedienstete liefen "mit dem Zollstock" durch die Flaniermeile, damit ja kein Zentimeter zu viel in die "Sperrzone" rage. Auf RNZ-Online sieht ein Nutzer die Hauptstraße als "Aushängeschild", hält sie gar für "beeindruckend schlecht", optisch und verkehrstechnisch. Fahrender und stationärer Verkehr müssten besser geregelt und strenger kontrolliert, Haltebuchten angelegt werden. Kreisverkehre würden Sinn ergeben.
Was tun? "Was uns fehlt", mutmaßt Karl Schramm, "ist wahrscheinlich auch ein wenig Mut zu mehr Originalität."Ein Facebook-Nutzer bemängelt, dass es bei der Entwicklung der Innenstadt seit Jahrzehnten "kein klares Konzept" gebe. Holger Lesser schielt nach Eppingen: "Es gibt Städte, die lockern ihre renovierten Fußgängerzonen zu Einbahnstraßen mit Schritttempo und Kurzzeit-Parkbuchten auf." Andrea Markowitsch lobt die Aktivitäten des Mosbacher Gewerbevereins "Mosbach Aktiv" mit "Brotmarkt, Bauern-, Kürbis- und Kunsthandwerkermarkt". Manfred Hütter spricht sich "für Flexibilität" aus und "lustige, vielschichtige Sachen", wie etwa einen kürzlich eröffneten "Barbershop". Auch etwas mehr gezieltes Gewerbemarketing befürwortet er. Man dürfe Sinsheim nicht schlecht reden, "denn wir sind das Gegenteil davon."